Dieser Text könnte als Versuch interpretiert werden, das Versagen der Bundesregierung beim Abzug aus Afghanistan wahlpolitisch auszuschlachten. Deswegen habe ich lange überlegt, ob ich diesen Text schreiben soll, Sätze angefangen und wieder gelöscht. Aber das, um was es mir geht, hat nichts mit Wahlkampf zu tun, ich möchte auf eine andere Art des Politikmachens drängen.
Der Hintergrund: Am Mittwoch, 23. Juni 2021, stand ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Tagesordnung, der darum warb, ein Gruppenverfahren zur „großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte einzuführen, die für deutsche Behörden und Organisationen arbeiten oder gearbeitet haben“ aufzusetzen. CDU/CSU, SPD und AfD lehnten den Antrag ab, die FDP enthielt sich, die Linke stimmte zu. Roderich Kiesewetter, MdB, CDU, bezeichnet es inzwischen selbst als großen und gravierenden Fehler, den Antrag „aus Prinzip“ abgelehnt zu haben, auch Laschet gestand dies im Sat1-Sommerinterview ein.
Diese Einsicht kommt für tausende Menschen, die für westliche Staaten und Organisationen gearbeitet haben, zu spät. Talibankämpfer gingen bereits von Tür zu Tür und suchten nach den „Verrätern“, berichtete zdf.de. Nun ist das Entsetzen groß. Diese Erschütterung sowie das Eingeständnis des Fehlers bei der Abstimmung, lies mich kurzzeitig hoffen, dass dies dazu beiträgt, in Zukunft öfter das parteipolitische Taktieren über den Haufen zu werfen, damit sich so etwas nie mehr wiederholt. Aber diese Hoffnung wurde schon bald wieder stark ernüchtert, denn Politiker*innen wie Klöckner, Laschet, Ziemiak, Strobl & Co. schien es ausgerechnet nun, während afghanische Ortskräfte um ihr Leben fürchteten, enorm wichtig zu sein, vor die Kameras zu treten und vorauseilend zu verkünden, dass „sich 2015 nicht wiederholen darf“.
Mal abgesehen davon, dass dieser Satz das Jahr 2015 in ein Schreckensjahr umdichtet, in dem großes Unheil über uns gekommen sei und diese Äußerung jegliche Differenzierung vermissen lässt: Was mich wirklich sprachlos macht, ist, dass die oben genannten Personen es gerade jetzt so nötig haben, diesen Satz wieder auszugraben. Damit zeigen sie, wo ihre Prioritäten liegen. Wahlvolk versus Afghan*innen. Und es zeigt außerdem, was für ein Bild sie von den Menschen haben, die sie als ihre potenziellen Wähler*innen sehen. Anscheinend trauen sie ihnen Komplexität und Differenzierung nicht zu, was allein angesichts all der Hilfsbereitschaft, die es 2015 gab, erstaunt. Die CDU / CSU scheint zu glauben, dass sie ihre Wähler*innen mit solch einem Satz abfertigen und ruhig stellen kann oder muss. Ich würde mich für dumm verkauft fühlen, wäre ich Adressatin dieses Satzes.
Politik muss doch mehr sein, als Wähler*innen bei Laune zu halten. Politiker*innen sollten erklären und aufklären, für die eigenen Ziele werben und nicht (vermeintliche) Stimmungen im Wahlvolk durch das Schüren von Ängsten und Ressentiments bedienen und sich hinter Floskeln verstecken. Flucht und Migration finden weltweit statt und werden noch zunehmen. Mich als Wählerin würde interessieren, was die konkreten (gerne auch noch unausgereiften) Gedanken, Ansätze, Konzepte und Pläne für die Krisen dieser Welt sind. Abgespeist werden mit derartigen Phrasen, macht nicht nur jede ernstgemeinte Auseinandersetzung zunichte, es wirkt auf mich angesichts der Situation auch äußerst selbstbezogen und menschenverachtend. Traut uns Wähler*innen mehr zu!
Lea Beifuß