Traurige Bilanz des Artensterbens: Der Living Planet Report 2022

Im Oktober hat die deutsche Sektion des WWF die Kurzfassung des aktuellen Living Planet Report veröffentlicht.

Weniger Vögel im Garten, weniger Bienen, weniger Fische im Meer spüren wir nicht so hautnah wie Hitze oder Überschwemmungen. Die 14. Ausgabe des Living Planet Report zeigt, wie Artenkrise und Klimakrise zusammenhängen und welche Lösungen es gibt. Der Report basiert auf Daten von 31.821 Beständen von 5.230 Arten weltweit – Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien und Amphibien.

Der durchschnittliche Rückgang dieser Arten von 1970 bis 2018 liegt bei 69 Prozent. Noch drastischer wirkt diese Zahl vor dem Hintergrund der Prognose des Weltklimarats (IPCC), dass sich die Wirkung der Klimakrise auf die Artenvielfalt bis 2100 dramatisch erhöhen wird.

Am stärksten betroffen sind die Bestände von Fischen, Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren, deren Existenz von intakten Flüssen, Seen und Feuchtgebieten abhängt. Ihre weltweiten Verluste seit 1970 betragen durchschnittlich 83 Prozent (ermittelt auf der Basis von 6.617 Beständen von 1.398 Arten).

In Nordamerika und Eurasien verläuft die Abnahme der Wirbeltierbestände nicht ganz so kontinuierlich und deutlich langsamer ab als in den anderen Erdregionen: Sind es in Nordamerika 20% und in Europa und Zentralasien 18%, so beträgt sie in Asien und Pazifik 55%, in Afrika 66% und in Lateinamerika und der Karibik sogar 94%. Für Landwirbeltiere – Säugetiere, Vögel und Amphibien – ist die Lage besonders dramatisch im Himalaja, auf den Inseln Südostasiens, im Trockenwald von Madagaskar, am Ostafrikanischen Bergrücken, in den Wäldern Westafrikas, im atlantischen Regenwald in Südamerika, im Amazonasbecken und den nördlichen Anden bis nach Panama und Costa Rica. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in Europa viele Tierarten extrem gefährdet sind.

Bei den Fischen haben es wandernde Arten wie Stör, Aal und Lachs besonders schwer. Ihre Bestände sind weltweit zwischen 1970 und 2016 um durchschnittlich 76 Prozent zurückgegangen, in Europa sogar um 93 Prozent.

Bestände von 18 Hai- und Rochenarten in der Hohen See sind in den letzten 50 Jahren weltweit um 71 Prozent geschrumpft (Körperlänge ≤ 250 cm: 31 %, 250–500 cm: 75 %, > 500 cm: 81 %). Die dafür hauptverantwortliche Überfischung erfolgt nach einem klassischen Muster: Zuerst werden die Tiere großer Arten gefangen. Ihre Bestände schrumpfen anfangs schneller als die der kleineren Arten. Und während die großen Arten einen längeren Lebenszyklus haben als die kleineren und sich langsamer reproduzieren, können kleinere Haie und Rochen mit ihrem kürzeren Lebenszyklus den Verlusten durch Fischfang etwas besser und länger standhalten.

Andere Beispiele extrem gefährdeter Arten sind die Pflanzen bestäubenden Hummeln, die aufgrund immer mehr heißer Tage bereits lokal aussterben, oder die tropischen Korallenriffe, von denen in den vergangenen 30 Jahren die Hälfte verschwunden ist. Schaffen wir das 1,5-°C-Ziel, verschwinden wahrscheinlich davon 70 bis 90 Prozent, bei 2 °C werden kaum welche überleben.

Das weltweit kritischste Gebiet für Klima und Artenvielfalt ist das Amazonasbecken. Hier braucht es ein globales Abkommen, das 80 Prozent des Amazonas bis 2025 dauerhaft schützt, ein sofortiges Moratorium für Entwaldung und Degradierung in Gebieten, die einem ökologischen Kipppunkt nahe sind, den Stopp von Entwaldung und Degradierung bis 2030, die Wiederherstellung terrestrischer und aquatischer Ökosysteme sowie die integrative und gerechte Nutzung von Wäldern und Flüssen.

Die wesentliche Quelle für Klimakrise und Artenkrise ist unser ökologischer Fußabdruck. Er ist etwa doppelt so hoch wie die zur Verfügung stehende Biokapazität. Der Fußabdruck lässt sich nach unterschiedlichen Kriterien aufschlüsseln. Nach Nutzungsarten ergibt sich folgende Aufteilung:

60% stammen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe und der Zementherstellung.
19% sind Ergebnis der Landbedarfs für Nahrungsmittel, Viehfutter, Ölpflanzen und andere Produkte.
10% werden verursacht durch die Nutzung von Wäldern für Brennholz, Zellstoff und Holzprodukte.
5% betreffen das Weideland für die Aufzucht von Vieh für Fleisch-, Milch-, Leder- und Wollprodukte.
3% sind Resultat der Ernte von Fischen und Meeresfrüchten und von Aquakultur.
2% emittieren wir durch die Nachfrage nach Flächen für Infrastruktur: Straßen, Häuser, Industrieanlagen usw.

Nach Aktivitätsfeldern lässt sich der Fußabdruck folgendermaßen zuordnen:

30% Ernährung, 22% Wohnen, 19% Dienstleistungen, 15% Transport, 15% Warenverkehr

In Deutschland verbrauchen wir etwa dreimal so viel pro Person, wie uns zusteht.

Der WWF fordert von der Politik

1. Klimaresistentes Wirtschaften mit Netto-Null-Emissionen und 100 Prozent erneuerbaren Energien

Alle Treibhausgasemissionen müssen schnell gesenkt und das Pariser Abkommen muss umgesetzt werden. Der Übergang zu einer klimaresistenten Wirtschaft mit Netto-Null-Emissionen und 100 Prozent erneuerbaren Energien bis zur Mitte des Jahrhunderts ist unverzüglich voranzutreiben, ergänzt um Maßnahmen zum Schutz und zur Wiederherstellung der Natur. Dabei müssen die Länder und Bevölkerungsgruppen unterstützt werden, die am wenigsten mit den Folgen der Klimakrise umgehen können.

2. Stopp der Lebensraumzerstörung und Artenübernutzung

Der internationale Handel mit wild lebenden Tier- und Pflanzenarten an Land und im Meer muss legal, nachhaltig und verantwortungsvoll gestaltet werden. Wilderei und illegaler Handel mit bedrohten Arten müssen gestoppt und die Nachfrage nach illegalen Wildtierprodukten reduziert werden. Wir brauchen eine Handelsregulierung, die eine nachhaltige Nutzung von Tieren und Pflanzen als wichtigen Anreiz für Naturschutz ermöglicht und sicherstellt, dass bedrohte Arten nicht weiter übernutzt werden.

3. Verbindliche Maßnahmen zum Erhalt der biologischen Vielfalt

Die direkten und indirekten Treiber des weltweiten Verlusts von Arten und Ökosystemen sind spätestens bis 2030 zu stoppen. Dazu müssen neue globale Ziele zur Erhaltung der biologischen Vielfalt mit verbindlichen Maßnahmen verabschiedet werden. Sie müssen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformation vorantreiben und gleichzeitig die Menschenrechte respektieren, insbesondere die Rechte indigener und lokaler Bevölkerungsgruppen.

Wichtige Bausteine dafür sind beispielsweise

  • mehr Schutzgebiete und ökologische Korridore mit einem effektiven Management und mit Einbeziehung indigener und lokaler Bevölkerungsgruppen,
  • die Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks von Produktion und Konsum weltweit um mindestens die Hälfte,
  • die Reform und Transformation aller Wirtschaftsbereiche und des Finanzsektors und
  • die drastische Steigerung der Biodiversitätsfinanzierung.

Gerhard Seitfudem