Der Klimastress ist nicht allein: Das Konzept der planetaren Belastungsgrenzen

Die Welt redet über das Klima, viele Menschen ignorieren mit ihrem Verhalten die Klimakrise. Was in der Diskussion leicht vergessen wird: Nicht nur das Klima kann dazu führen, dass das „System Erde“ instabil wird und kippt. Forscher*innen haben bereits 2009 insgesamt neun kritische Sektoren definiert – beteiligt an dieser Arbeit waren auch die bei uns bekannten Hans-Joachim Schellnhuber und Paul Crutzen.

Wir wissen, dass die Erde sich seit etwa 11.700 Jahren, dem Holozän, in einem relativ stabilen Zustand befindet, der das Leben menschlicher Gesellschaften ermöglicht. Mit unserem Handeln könnten wir die Widerstandsfähigkeit des Systems Erde überfordern. Wird auch nur in einem der neun Sektoren die planetare Belastungsgrenze überschritten, ist die Stabilität des Systems Erde gefährdet. Dafür hat man drei Stufen definiert:

  • Grüner Bereich: Die Belastung durch den jeweiligen Faktor liegt im „holozänkonformen Bereich“, sie ist also noch nicht grundsätzlich riskant für unsere Lebensgrundlagen.
  • Gelber Bereich: Die Belastung liegt im riskanten Bereich.
  • Roter Bereich: Die Belastung liegt im hohen Risikobereich.

Wir wissen nicht, wo in den neun Sektoren die jeweiligen Kipppunkte wirklich liegen – im grünen, gelben oder roten Bereich, aber die Wahrscheinlichkeiten dafür sind im grünen Bereich sehr gering, im gelben Bereich deutlich höher, im roten sehr hoch.

Das Konzept ist sehr komplex, und auch die relativ verständliche Beschreibung auf Wikipedia hat deutliche Schwächen. Ich versuche hier, eine grobe Beschreibung des Systems zu geben. Und es geht mir darum, auf die Handlungsfelder hinzuweisen, bei denen lokales, regionales, nationales und internationales Handeln nötig ist: Flächenentsiegelung und Aufforstungen, Artenschutz, Abbau der Emission von klimaschädlichen Stoffen, geringere Nutzung und Abbau von kritischen chemischen Verbindungen, umweltverträgliche Landwirtschaft und Produktion, Ausweisung von Natur- und Meeresschutzgebieten usw. Jedes noch so geringe Engagement in diese Richtung hat seinen Wert.

Um welche Belastungsfaktoren geht es also und in welchem Bereich der Belastungsgrenzen befinden wir uns?

Klimakrise
Die Treiber sind bekannt, es sind CO2, Methan und andere Treibhausgase, mit denen wir uns in den gelben Bereich katapultiert haben. Wenn wir uns wirklich anstrengen und uns am 1,5-Grad-Ziel orientieren, kriegen wir wahrscheinlich noch die Kurve, auch wenn die Menschen dann wahrscheinlich mit chaotischeren klimatischen Bedingungen leben müssen als heute.

Versauerung der Ozeane
Dieser Sektor ist eng gekoppelt mit der Klimakrise, denn die Versauerung des oberen Meerwassers wird vor allem durch die Aufnahme von CO2 vorangetrieben. Mit der Versauerung sinkt die Konzentration von Karbonat-Ionen. Das wiederum schädigt wichtige Organismen, zum Beispiel Korallen oder Mollusken, zu denen auch die Tintenfische gehören.
Bisher sind wir wahrscheinlich noch im grünen Bereich.

Ozonloch
Eindeutig grün! Durch das Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) erholt sich die Ozonschicht seit 1989 permanent. Das lässt uns hoffen, dass menschliche Bemühungen auch in anderen Sektoren dazu führen, dass sich das System Erde in diesen erholen könnte.

Aerosolbelastung der Atmosphäre
Bezüglich der Belastungsfähigkeit der Atmosphäre durch kleine feste oder flüssige Teilchen herrscht große Unsicherheit. Grün, gelb oder rot: Im globalen Maßstab wissen wir es schlichtweg noch nicht, regional gilt zumindest in Monsunregionen die Belastung nicht mehr als unkritisch.

Biogeochemische Vorgänge
Hier geht es bisher um die Stoffkreisläufe von Stickstoff und Phosphor, vielleicht werden irgendwann weitere Stoffe dazukommen.
Phosphor gerät hauptsächlich durch Düngen in die Biosphäre. Er führt zu einer Sauerstoffverarmung in Ozeanen und Binnengewässern und damit zum Absterben von Lebewesen. In den Ozeanen ist der Phosphorgehalt noch relativ gering, in vielen Süßwassersystemen sind wissenschaftlich definierte Grenzwerte bereits deutlich überschritten.
Stickstoffverbindungen tragen als Lachgas in der Atmosphäre zum Treibhauseffekt bei, in Böden ist Nitrit für viele Organismen giftig. Hier ist der Stickstoffeintrag bereits extrem kritisch.
Es ist davon auszugehen, dass wir bei beiden Stoffen bereits weit im roten Bereich sind, bei Stickstoff noch stärker als bei Phosphor.

Süßwasserverbrauch
Wir unterscheiden zwei Arten von Wasser: in Böden gespeichertes „grünes Wasser“ sowie „blaues Wasser“ in Form von Oberflächen- und Grundwasser. Auch wenn in vielen Regionen das Trinkwasser knapp wird und vorliegende Modelle dazu nicht an jeder Stelle konsistent sind, sollten wir im globalen Maßstab zumindest bis Mitte des Jahrhunderts sicher im grünen Bereich sein.

Landnutzung
Betrachtete man hier früher die landwirtschaftliche Fläche, so konzentriert man sich bei diesem Sektor heute auf die mit Wald bedeckte Fläche. Nach einem Bericht der Food and Agriculture Organization der UN von 2015 schrumpft die globale Waldfläche jährlich um 0,13%, entsprechend der Arbeit „Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet“ aus demselben Jahr lag die globale Waldfläche nur noch bei 62% der Fläche aus der vorindustriellen Zeit.
Klarer Fall: gelb. Gegenüber anderen Sektoren erscheint der „Weg zurück“ hier eher machbar, vor allem indem man Wälder und Moore als Schutzzonen ausweist, Wälder intensiv aufforstet und Moore renaturiert – und zwar möglichst schnell, denn die Natur braucht Zeit.

Schädigung der Biosphäre
Änderungen in der biologischen Vielfalt beeinflussen die Erdsystemfunktionen. Zur Beschreibung der biologischen Vielfalt nutzt man zwei Kriterien, die genetische und die funktionelle Diversität.
Die genetische Diversität beschreibt die Vielfalt des gesamten genetischen Materials. Je mehr genetische Arten es gibt, desto größer ist die Chance, dass sich Lebewesen an nichtbiologische Änderungen der Umwelt anpassen können. Der Status lautet hier: Wir haben ein Massensterben, wir sind weit im roten Bereich.
Bei der funktionellen Diversität geht es um die Verteilung und Eigenschaften von Organismen in Ökosystemen. Sie ist entscheidend für die Funktionsfähigkeit der Biosphäre. Hier ist der Forschungsstand noch mangelhaft, wir wissen also nicht, wie weit die Schädigung schon fortgeschritten ist.

Chemische Belastung oder „Einbringung neuartiger Substanzen“ („Novel Entities“)
Man schätzt, dass weltweit etwa 350.000 verschiedene chemische Verbindungen auf dem Markt sind. Von etwa einem Drittel wissen wir nicht einmal genau, was das für Substanzen sind, weil sie entweder als „vertraulich“ eingestuft sind oder es sich um „komplexe Gemische“ handelt.
Es ist davon auszugehen, dass wir bei der chemischen Belastung deutlich im roten Bereich sind. Selbst wenn wir keine neuen Verbindungen mehr zulassen würden: Die alten sind da und verbreiten sich immer mehr.
Wir brauchen dringend ein internationales Gremium, das den Überblick über die Substanzen und ihre Verbreitung hat und Vorschläge macht, mit welchen Maßnahmen wir die Erde bewahren können.

Fridays for Future wird in der Öffentlichkeit vor allem mit der Klimakrise assoziiert. Um die Öffentlichkeit anzutriggern, bräuchten wir eine größere Zielgenauigkeit: Fridays against Climate Change, Fridays for Forests and Moors, Fridays for Biodiversity, Fridays against Critical Compounds, Fridays for Sound Soils. Damit wären die kritischsten Bereiche abgedeckt.

Ob es aber noch einen zehnten Bereich gibt, wissen wir noch nicht. Eines macht das Konzept deutlich: Es könnte sein, dass es irgendwo noch viel mehr brennt als beim Klima, ohne dass wir das bisher wahrgenommen haben. Nur ein Beispiel: Eigentlich geht es schon lange nicht mehr nur um die Frage, in welchen Lebewesen und Organismen Plastik nachgewiesen werden kann. Es geht darum, was das Plastik bewirkt.

Gerhard Seitfudem

Quellen:
Angeregt durch „Jenseits der Giftgrenze“ von Fritz Habekuss in DIE ZEIT, Nr. 5, 27.1.2022 basiert dieser Beitrag großteils auf den Artikeln „Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet”, „Outside the Safe Operating Space of the Planetary Boundary for Novel Entities“, „Ein nachhaltiges Maß für chemische Intensität finden“ sowie dem Wikipedia-Eintrag zu Planetaren Grenzen