Tiere und Pflanzen sind an die Temperatur in ihrem Lebensraum, ihren Klimazonen, angepasst. Doch die Temperaturen und damit auch die Klimazonen verändern sich. Die Folge: Tier- und Pflanzenarten wandern mit den Klimazonen in Richtung der Pole. Damit findet eine drastische Umverteilung des Lebens auf der Erde statt. Landbewohner wandern (im Mittel) pro Tag fünf Meter Richtung Nord- beziehungsweise Südpol, innerhalb von 10 Jahren sind das 17 Kilometer. Bei Meeresbewohner sind es sogar 20 Meter täglich bzw. 72 Kilometer in 10 Jahren. „Das Überraschende ist, dass wir das auf jedem Kontinent und in jedem Ozean sehen“, sagt Camille Parmesan, eine international anerkannte Ökologin. „Es gibt keine Gegend auf der Erde, wo das nicht passiert, und es gibt keine Gruppe von Organismen, die nicht betroffen ist.“
Auch die Landnutzung durch den Menschen treibt die Tiere in Richtung der arktischen Regionen. Der Verbreitungsschwerpunkt der fast 600 europäischen Vogelarten verschob sich in den letzten 30 Jahren im Mittel um 28 Kilometer. Manche Vogelarten (etwa die Wachtel, die man nun auch in Schottland findet) sind aber deutlich schneller. Es könnte sogar sein, dass zumindest bei Vögeln der Effekt durch veränderte Landnutzung noch stärker ist als der des Klimawandels. Aber bei ihnen gibt es auch Klimagewinner, die ihren Lebensraum erweitern können, zum Beispiel Kuhreiher, Silberreiher, Bienenfresser und Mittelmeermöwe.
17 Kilometer in 10 Jahren hören sich erst einmal nach wenig an. Doch je nach Art ist die Wanderungsgeschwindigkeit unterschiedlich. Beispiel Tigermücke: Nachdem sie die Barriere der Alpen überwunden hat, rückt die Überträgerin tropischer Krankheiten nun jährlich 150 Kilometer weiter nach Norden vor. Oder die ursprünglich „süddeutsche“ Zecke: Sie hat 2019 das Emsland erreicht.
Die Wanderung birgt auch Gefahren, die nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind: Wenn sich neue Arten begegnen, steigt deren Gefährdung, sich durch neue Krankheitserreger anzustecken – und zusätzlich können sich neue Mutationen dieser Erreger bilden. Auch politische Krisen sind nicht unwahrscheinlich: 2007 tauchten in den isländischen Gewässern erstmals Makrelen auf. Der daraus entstehende Streit zwischen den Fischern aus Island und Norwegen und Großbritannien, die nicht auf „ihre Makrelen“ verzichten wollen, ist bis heute nicht beigelegt.
Statt kälteliebender Speisefische wie Makrele oder Kabeljau fangen die Fischer in der Nordsee übrigens immer mehr Thunfisch oder Kalmare, Sardinen, Seebrassen oder Rotbarben. Das kompensiert jedoch nicht annähernd die Verluste bei Kabeljau (der nun auch darunter leidet, dass sein Nachwuchs auf dem Speisezettel der Kalmare steht) und anderen Arten. Vielleicht wird auf Dauer Südeuropa eher von den Veränderungen der Fischgründe profitieren, weil die dort heimischen Warmwasserfische den Klimawandel besser verkraften und zusätzliche Einwanderer aus den Tropen einströmen.
Nicht alle Arten können einfach abwandern. Wer nicht schnell genug ist, wird aussterben. Wahrscheinlich auch, wer auf die kalten Regionen des Nordens spezialisiert ist. Und wer an eine geographische Grenze stößt, hat ebenfalls schlechte Karten – wie am Chimborazo in Ecuador, wo die meisten Arten heute 500 Meter höher leben als zu Zeiten Alexander von Humboldts. Mit steigender Höhe wird ihr Lebensraum immer kleiner.
Auch wer bestimmte Futterpflanzen braucht, kann nicht so einfach weiterziehen. Zum Beispiel der Moselapollofalter, denn die Futterpflanze für seine Raupen, die Weiße Fetthenne, kommt weltweit nur an den felsigen Steilhängen im Moseltal vor. Wegen der zunehmend ausbleibenden Frosttage schlüpfen die Raupen jetzt immer früher. Doch sie finden kein Futter, weil die Fetthenne dann noch nicht herangewachsen ist.
Bei vielen Arten geht es also nicht mehr nur darum, diese zu schützen, sondern sie können nur überleben, wenn sie wandern können oder gezielt umgesiedelt werden. Doch erst wenn sich das Klima stabilisiert haben wird, können die Arten sich dauerhaft einen geeigneten Lebensraum erschließen. Diejenigen, die dann noch übrig sind.
Was ist also zu tun?
Es braucht ein wirksames Artenschutzabkommen. Laut UN-Plan soll im Mai 2022 in Kunming eine neue Strategie für den Artenschutz formuliert werden, in der möglichst konkrete Mittel und Ziele stehen sollen. Es ist zu hoffen, dass sich die Länder dann einigen, mindestens 30 Prozent der Erde unter Schutz zu stellen. Dabei ist es wichtig, welche 30 Prozent unter Schutz gestellt werden. Schutzgebiete dürfen nicht isoliert ausgewiesen werden, sondern müssen durch ökologische Korridore miteinander verbunden werden. In der Biodiversitätsstrategie der EU heißt es: Diese Korridore sollten „genetische Isolierung verhindern und die Migration von Arten ermöglichen“.
Für den klassischen Artenschutz stellen sich nun unangenehme Fragen: Wenn Tiere und Pflanzen aus ihren Schutzgebieten herauswandern, verlieren dann klassische Schutzkonzepte ihren Sinn? Wie können sich Arten in kühlere Gebiete retten? Was ist die Aufgabe des Menschen?
Parmesan und Kollegen fordern, Tiere und Pflanzen nicht in teils willkürlich festgelegten Bereichen zu halten, sondern ihnen auf ihrer Wanderung freien Lauf zu lassen, sie dabei womöglich auch zu unterstützen. Außerdem sollten wir solche Refugien bewahren, die kälter sind als ihr jeweiliges Umland und damit einen gewissen Schutz vor dem Klimawandel bieten. Biologen empfehlen zudem, mehr als 50 Prozent der Erde als Schutzzonen auszuweisen. Das scheint möglich, denn EU, Großbritannien, Kanada, Mexiko und weitere Staaten haben sich bereits zum 30-Prozent-Ziel bis 2030 bekannt, in Kunming sollen die anderen Länder folgen. Auch die Bundes- und die bayerische Landesregierung könnten sich hier profilieren.
In Australien läuft sie übrigens schon, die landesweite Suche nach geeigneten Klimarefugien samt Verbindungswegen. Und in Großbritannien arbeiten Naturschützer an einem landesweiten Netzwerk aus Blühstreifen. Drei Kilometer breite Korridore sollen den Wildbienen die Wanderung von Süd nach Nord erleichtern.
Trotz solcher Maßnahmen werden viele Tausende Arten aussterben, mit jedem Zehntel Grad Klimaerwärmung wird diese Zahl steigen. Artenschützer empfehlen deshalb, die Erderwärmung auf möglichst unter zwei Grad Celsius zu begrenzen – und als letztes Mittel sogar einzelne Spezies umzusiedeln.
Quellen:
https://www.klimareporter.de/erdsystem/das-groesste-freilandexperiment-aller-zeiten
https://www.klimareporter.de/erdsystem/umbruch-in-der-nordsee
https://taz.de/Klimakrise-vertreibt-Arten/!5800131/
https://www.spektrum.de/news/klimawandel-und-landwirtschaft-setzen-unsere-voegel-unter-druck/1804949
https://www.zeit.de/2021/52/klimawandel-artenschutz-naturschutzgebiete-erwaermung
Das Buch zum Thema:
Benjamin von Brackel: Die Natur auf der Flucht. Warum sich unser Wald davonmacht und der Braunbär auf den Eisbären trifft. Wie der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sich hertreibt. Wilhem Heyne Verlag, München 2021, 288 Seiten, 13 Euro
Gerhard Seitfudem