Der Klimawandel trifft nicht die Privilegierten. Wir brauchen mehr Klimagerechtigkeit und neue Erzählungen

Stärker als bisher wird 2024 in Deutschland das Thema „Hitzetote“ wahrgenommen und diskutiert. Grund genug, die ganze Sache globaler zu betrachten. In vielen Ländern der Welt sterben Menschen aufgrund von durch Klimawandel hervorgerufener Hitzewellen. Das ist kein Schicksal, es ist vor allem Unrecht. Denn der Klimawandel ist Unrecht. Er trifft nicht die Reichen oder Privilegierten, sondern bevorzugt Ärmere, Ältere, Ungebildetere, Menschen in Ländern des Globalen Südens. Er trifft Menschen umso mehr, wo es keine oder nur mangelhafte Statistiken gibt, zum Beispiel zu Wetterdaten in Afrika oder zu Hitzeextremen in Afrika oder Indien, wo tausende Menschen aufgrund der Klimakatastrophe sterben.

Wenn die Kausalitätskette von der Emission bis zum konkreten Schaden nachgewiesen werden kann, kann man gegen solche durch Unrecht entstandene Schäden klagen. Immer häufiger werden weltweit wissenschaftliche Erkenntnisse für Gerichtsprozesse zur Verfügung gestellt. Das wird die Chancen auf erfolgreiche Klagen weiter verstärken. Denn je besser Richter wissenschaftliche Fakten nachvollziehen können, umso eher sind sie in der Lage, entsprechende Urteile zu fällen. Das ist wichtig, denn Rechtsprechung ist nichts Neutrales, sie gründet – überall auf der Welt – auch auf den Wertvorstellungen und dem kulturellen Hintergrund der Richter.

Umweltrechtsverträge sind eine Art Menschenrechtsvertrag und genießen supranationalen Status. So hat es ein brasilianisches Gericht in einem Urteil bezüglich der Entwaldung im Amazonasgebiet formuliert. Auch das Pariser Abkommen ist als Menschenrechtsvertrag zu werten. Denn in der dortigen Präambel heißt es, „dass der Kampf gegen den Klimawandel ein gemeinsames Anliegen der Menschheit sei und die Vertragsparteien, wenn sie entsprechende Maßnahmen ergreifen, ihre jeweiligen Verpflichtungen hinsichtlich der Menschenrechte berücksichtigen sollten“. Das bedeutet nichts anderes als: „Wer sich nicht an das Pariser Abkommen hält, macht sich eklatanter Menschenrechtsverletzungen schuldig.“ Anklagen ließe sich auf dieser Grundlage etwa die Politik der Regierung Bolsonaro, die nach Schätzungen innerhalb der nächsten 80 Jahre für über 180.000 Hitzetote verantwortlich sein wird.

Bisher ignorieren die Politiker des Globalen Nordens diese Fakten; stattdessen behandeln sie Klimaziele wie ökonomische Kosten-Nutzen-Abwägungen. Von Gerechtigkeit kaum eine Spur. Gerichtsurteile können ihnen auf die Sprünge helfen. Allein in den USA waren 2023 mehr als tausend Klagen zu Klimaschäden anhängig. In Deutschland könnte die Klage gegen das aktuelle Klimaschutzgesetz erfolgreich sein. Wenn eben die Richter die wissenschaftlichen Zusammenhänge wahrnehmen und andere Wertvorstellungen entwickeln.

Dabei geht es zuerst einmal darum, das kolonialfossile Narrativ zu entzaubern. Dieses suggeriert uns, dass Veränderung immer ein Verzicht ist. Es spiegelt die Arroganz wider, mit der westliche Gesellschaften dem Thema Klimagerechtigkeit gegenüberstehen. Und es basiert auf einem globalen, auf Kolonialismus, Rassismus und Ausbeutung von Frauen begründetem System, in dem es Menschen gibt, die weniger wert sind, weniger Geld für ihre Leistung bekommen und nicht Teil der globalen Gesellschaft sind. Zum Beispiel Minenarbeiter im Kongo oder in Südamerika. Dieses System, dieses Narrativ ist bei uns mehrheitlich gesellschaftlich akzeptiert. Und auf Grundlage dieses Narrativs, welches uns vermeintlich das Recht dazu gibt, werden nicht nur Menschen ausgebeutet, sondern auch Ökosysteme. Gleichzeitig tut man so, als könne man den Klimawandel durch neue Technologien überwinden. Diese Darstellung verkennt aber die weltweiten Zusammenhänge und offenbart einen stark eingeschränkten Horizont.

Auch wenn es auf den ersten Blick schwer zu verstehen ist: Klimawandel hängt mit Rassismus, Kolonialismus und Sexismus zusammen, mit nationaler und internationaler Ungerechtigkeit. Positive Veränderungen auf einer dieser Ebenen können positive Effekte auf den anderen erzeugen. Um dabei Erfolge zu erzielen, braucht es Geschichten, die auf eine bessere Zukunft abzielen. Diese Geschichten – Narrative – müssen im Alltag erzählt werden, in Bildung, Politik, Kunst und Literatur. Untergangsszenarien helfen uns nicht. Wir brauchen wirksames Handeln gegen Klimaungerechtigkeit, mit konstruktiven Narrativen, die dabei helfen, etablierte strukturelle Ungleichheit abzubauen – statt Ungerechtigkeit weiter durch Nichthandeln zu verschärfen.

Wir im Globalen Norden schätzen die Dinge auch falsch ein. Ein simples Beispiel: Wir reden über zwei Tage schlechter Luftqualität in New York nach den Waldbränden in Quebec 2023; aber wer weiß schon, dass die Luft im April 2022 in Delhi genauso schlecht war? Dort und in vielen anderen Regionen halten Hitzewellen viel länger an als bei uns in Europa, doch werden sie kaum als solche wahrgenommen. 3 Grad mehr haben dort deutlich extremere Auswirkungen als bei uns. Und Afrika zum Beispiel hat zu wenig Ressourcen, um seine Hitzedaten zu sammeln. Hitzewellen werden kaum erkannt. Egal, wie viele Tote es gibt. Doch es sind viel mehr als durch Überschwemmungen; die schauen halt in den Nachrichten spektakulärer aus.

Eine weitere falsche Darstellung ist die, dass wir in Deutschland in Sachen „Klimaarbeit“ weiter sind als andere Länder. Fakten sagen das Gegenteil: Frankreich investiert seit der Hitzewelle 2003 in Aufklärung und Frühwarnung; das geht in Deutschland gerade erst so langsam los. Im globalen Süden gibt es viele Maßnahmen auf kommunalen Ebenen, um die Wasserversorgung zu sichern. In Bangladesch erhalten Menschen bei Starkregen oder Überschwemmungsgefahr personalisierte Warnungen direkt aufs Handy. China investiert intensiv in CO2-Neutralität. Und wir packen noch nicht einmal das Strukturdilemma an, dass bei uns der Bund für den Zivilschutz und die Länder für den Katastrophenschutz zuständig sind! Wenn wir wollten, könnten wir aus der Katastrophe im Ahrtal lernen.

Wir denken noch viel zu sehr in der Kategorie „Emissionen vermeiden“. Tatsächlich drängt die Klimaveränderung mit ihren Folgen der Klimapolitik drei Aufgaben auf:

  • Mitigation (die Vermeidung künftiger Treibhausgasemissionen),
  • Adaptation (die Anpassung an die Folgen des Klimawandels) und
  • Loss and Damage (das Kompensieren von Verlusten und Schäden).

Im Vordergrund steht bisher die Mitigation, zu der es am meisten Forschung und Messungen gibt (weil hier das Messen am einfachsten ist). Die Adaptation ist zwar Teil des Pariser Klimaabkommens, doch gibt es dazu kaum messbare Kriterien. Immerhin wissen wir, worum es dabei geht: Frühwarnsysteme, eine an Extremklima angepasste Gesundheitsversorgung, neue landwirtschaftliche Methoden, klimaresistente Pflanzen, Renaturierung, Dämme usw. Loss und Damage ist schwieriger zu beschreiben, und es ist umso schwieriger, hier etwas zu tun, weil die betroffenen Länder eher im Globalen Süden liegen, die Verursacher aber im Norden. Letztere müssten das kolonialfossile Narrativ (das uns erzählt, dass es selbstverständlich und rechtens ist, dass wir Menschen und Natur anderswo ausbeuten) überwinden und handeln, aber Wählern im eigenen Land ist das kaum zu vermitteln. Die aktuellen, den globalen Süden betreffenden Kürzungen im bundesdeutschen Haushalt zeigen eher, dass uns kolonial vererbtes Ausbeuten lieber ist als strukturelles Helfen.

Wir Grüne stehen für eine andere Politik, doch fehlt uns ein mit ausreichend Prozenten untermauerter Auftrag der Wähler. Lasst uns deshalb gemeinsam an neuen Erzählungen arbeiten, die vielleicht schon bei der nächsten Bundestagswahl genügend Stimmen bringen, um mehr Klima- und sonstige Gerechtigkeit zu schaffen. Erzählungen, die im Idealfall den Bogen spannen von Bildung, Gesundheit und gesellschaftlicher Teilhabe bis zu Energieversorgung, Klima, Müllvermeidung, Biodiversität und vielem mehr. Da sollte genug Platz für gute Stories sein. Sie müssen geschrieben, erzählt und verbreitet werden.

Gerhard Seitfudem

Dieser Beitrag ist inspiriert von dem faszinierend gut recherchierten Buch „Klimaungerechtigkeit“ der Klimaforscherin, Physikerin, Philosophin und weltweit führenden Attributionsforscherin Friederike Otto, die 2023 mit dem Deutschen Umweltpreis ausgezeichnet wurde. Er enthält Zitate, die mit Ausnahme der beiden Passagen in Anführungszeichen nicht explizit als solche gekennzeichnet sind, weil der Beitrag nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Veröffentlichung erfüllt.

Friederike Otto: Klimaungerechtigkeit. Was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat. Ullstein, Berlin 2023