Doppelt extrem: Der Klima-Rückblick auf 2023

Abweichungen der Temperaturen und Niederschlagssummen 1881-2023 für den Zeitraum Januar bis Dezember von den vieljährigen mittleren Temperaturen und Niederschlagssummen 1961-1990 für Deutschland. © Deutscher Wetterdienst (DWD)

Die Aussage der Grafik ist furchterregend. Aber dazu kommen wir später.

2023 war in Deutschland und global das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, mit einem nationalen Hitzerekord von 38,8 °C am 15. Juli in Möhrendorf-Kleinseebach. Der Klimaforscher Mojib Latif sagt ganz klar, dass wir in den nächsten Jahrzehnten immer wieder neue Höchstwerte bekommen werden; das 2015 vereinbarte Maximalziel von 1,5 Grad Erwärmung bis 2100 sei nicht mehr erreichbar. Er meint, dass wir dicht an 3 Grad Erwärmung sind, „und dann bekommen wir eine Welt, die wir uns nicht wünschen“. (Quelle)

Wie die Faust aufs Auge passt auf diese Aussage der klimatologische Rückblick des Deutschen Wetterdiensts, der uns die wesentlichen Details übers letzte Jahr liefert. Denn, eher unbemerkt von den meisten von uns, äußerte sich der Klimawandel 2023 bezüglich der Kombination von Temperatur und Niederschlag  in einer völlig neuen Dimension.

Trotz (es sei nochmal betont: trotz!) des Sommers ohne besondere Hitzewellen führten ein milder Winter und ein warmer Herbst zum neuen Rekordwert. In fast allen Bundesländern wurden neue Temperaturrekorde aufgestellt. Gleichzeitig wurde 2023 die sechsthöchste Niederschlagssumme seit 1881 beobachtet, die höchste seit 2007. Ab Mitte Mai war zuerst Trockenheit problematisch für die Landwirtschaft, ab Ende Juli war es zu feucht, so dass das Getreide nicht richtig ausreifen und abtrocknen konnte. Wieder gab es Waldbrände, vor allem in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Und dann die Überschwemmungen im Bereich von Ems, Weser und Elbe und deren Nebenflüssen. Die erschreckenden Bilder haben wir alle gesehen.

Alle diese Phänomene wurden durch hohe Meeresoberflächentemperaturen im Nordatlantik begünstigt, die 2023 ein neues Rekordniveau erreicht haben. Der DWD-Bericht sagt: „Eine Attributionsstudie liefert vorläufige Hinweise, dass der Klimawandel das Auftreten vergleichbarer Monatsmittelwerte für die betroffene Region wahrscheinlicher gemacht hat.“ Diesen wissenschaftlich verklausulierten Satz muss man richtig interpretieren, er bedeutet ungefähr Folgendes: „Solche Extremwerte werden so gut wie sicher ab jetzt öfter vorkommen, mit permanent steigender Häufigkeit und immer wieder neuen Extremwerten.“

Da hilft nur handeln, nicht sich wegducken, wie es derzeit vor allem Union, FDP, AfD, FW, aber auch Teile der SPD tun, und wie es Manfred Weber und die Europäischen Volksparteien in Europa gegenüber dem Green Deal verstärkt wünschen. Andreas Becker, Abteilungsleiter Klimaüberwachung im DWD, sagt: „Wir müssen sowohl den Klimaschutz beharrlich ausbauen, als auch durch Prävention und Klimaanpassung Schäden durch immer stärkere Wetterextreme eindämmen.“ Wir sollten auf ihn hören.

Und nun zu der Grafik: Der grüne Punkt für 2023 liegt im Diagramm weit außerhalb aller bisher gemessenen Klimaextreme. Es war gleichzeitig viel zu warm und zu nass. Mit seinen beiden Jahresdurchschnittswerten für Temperatur und Niederschlag offenbart dieser Punkt in Wahrheit eine besonders große Summe von Extremsituationen: Hitze, Stürme, Hochwasser. Und genau auf diese müssen wir uns einstellen. Mittels weniger Ausstoß von Treibhausgasen, Bodenentsiegelung und Renaturierung, Windrädern, Stromtrassen, Wärmepumpen, umweltfreundlicherem Bauen, weniger Individualverkehr usw. Da reicht kein Innovationsgeschwafel. Wie kritisch der Temperaturanstieg gerade in unserer Region im Vergleich zum Rest der Welt ist, erfahrt ihr übrigens in unserem Beitrag aus dem Dezember: „Warum steigt die Temperatur bei uns deutlich stärker als im globalen Durchschnitt?“. Laut ARD-Wetterexperte Karsten Schwanke (Tagesthemen, 11.3.24) könnten uns in Deutschland Ende des Jahrhunderts nach derzeitigen Prognosen sogar Maximaltemperaturen von bis zu 48 °C drohen.

Wie sah es 2023 außerhalb Deutschlands aus?

In Europa lag die höchste Temperatur bei 48,2 °C auf Sardinien, knapp unter dem bisherigen offiziellen Europarekord von 2021 (ebenfalls auf Sizilien). Die Hitzewellen waren häufig nicht ganz so extrem, aber besonders lang und teilweise später (September statt Juli/August) als sonst üblich. In Nordeuropa war es dann im 4. Quartal deutlich kälter als normal.

Die globale Jahresdurchschnittstemperatur lag 1,45 ± 0,12 °C über dem vorindustriellen Niveau (1850-1900). Die 1,5 Grad sind also jetzt schon so gut wie erreicht, 2023 statt 2100! Ein ganzes Menschenleben zu früh.

Juni bis Ende des Jahres erreichten alle mittleren monatlichen Globaltemperaturen neue Rekordwerte, wobei Juli und August die beiden wärmsten Monate seit Beginn der Aufzeichnungen waren.

Treiber dafür war neben den Treibhausgasen das regelmäßig (im Durchschnitt alle vier Jahre) wiederkehrende El-Niño-Ereignis mit überdurchschnittlichen Wassertemperaturen im zentralen und östlichen äquatorialen Pazifik, die wiederum die Globaltemperatur erhöhen. Allerdings traten die Rekordtemperaturen bereits vor dem Höhepunkt des aktuellen El-Niño-Ereignisses auf. Noch nicht einschätzbar ist der Effekt eines besonders großen Vulkanausbruchs 2022 im Bereich des Inselstaats Tonga, der aufgrund enormer Mengen freigesetzten Wasserdampfs für Erderwärmung sorgt, statt wie sonst bei Vulkanausbrüchen für Abkühlung.

Außer im Pazifik gab es auch in anderen Meeresregionen ungewöhnlich hohe Wasseroberflächentemperaturen (Genaueres dazu findet ihr im August-Newsletter von 2023). Folge war die vierthöchste Zahl an jährlichen atlantischen Hurrikanen, obwohl während  El Niño normalerweise weniger Stürme auftreten.

Dazu wurde im September 2023 die bisher niedrigste maximale Meereisausdehnung in der Antarktis gemessen, und 2023 erreichte der mittlere globale Meeresspiegel einen neuen Rekordwert. Nicht nur in Europa gab es extreme Hitzewellen; es wurden Temperaturen von mehr als 50 °C erreicht, zum Beispiel 50,4 °C in Marokko. Und im Nordosten Chinas war es im Januar besonders kalt, -53 °C.

Die Welt gerät also derzeit politisch und klimatologisch aus den Fugen. Auf beides müssen wir reagieren. Aber eigentlich ist es noch verrückter, denn der Zusammenbruch des Golfstroms wird immer wahrscheinlicher. Ob das in 25, 50, 100 oder 1000 Jahren sein wird, lässt sich (noch) nicht abschätzen. Aber wenn es passiert, wird es in Deutschland ganz schnell richtig kalt – und Richtung Äquator höllisch heiß. Verhindern lässt sich das nur noch durch schnelle, massive Maßnahmen gegen die Erwärmung. 2023 war ein Warnschuss.

Gerhard Seitfudem